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Sonntag, 28. September 2008

Heute bin ich...

... die Frau aus dem Zug.
Sie hatte alles gesehen, was man sehen muss und noch viel mehr. Sie hatte alles erlebt, was ein Mensch in seinem Leben nur erleben kann. Mit dem Unterschied, dass sie erst Mitte 30 war. In ihrem Beruf war sie eine starke Frau, sie managte alles in der Familie ebenso gelassen wie im Job. Sie hatte nur ein kleines Geheimnis, um dass keiner Bescheid wusste. Sie konnte durch die Augen der Menschen in ihre Seelen blicken. Das bereitete ihr sehr viele Schmerzen. Und trotz ihrer Gabe, was sie als Fluch empfand, suchte sie immer wieder etwas in Beziehungen zu Männern, wo sie von vornherein wusste, dass er sie verletzen wird. Eines Tages kam es soweit, dass ihr Herz endgültig zerbrach. Sie konnte es sehr gut hören, wie es in Stücke brach. Nichts konnte all den Schmerz, die Enttäuschung und Verletzung der letzten Jahre wegmachen. Es gab kein Trost mehr für sie. Es gab keinen Ort der Ruhe mehr für sie. Sie kam am Ende des Weges an. Nichts holte ihre Jugend und die Hoffnung zurück. Nichts brachte ihren toten Geliebten zurück. Alles war weg, verlebt, verblüht und tot. Sie sah 15 Jahre älter aus, als sie ist. Und wenn sie aus dem Fenster rausguckte, vorbei an den Feldern, wo der Zug schnell vorbeifuhr, dann blickte sie nicht nach draußen sondern in sich, in ihre Vergangenheit. Leute steigen ein, steigen aus. Es ist mal leise, mal laut. Der Zug hält, der Zug fährt. Sie saß still und bewegungslos mir gegenüber. Fast sah es so aus, als würde sie nicht einmal atmen. Sie blickte ab und zu nach draußen und Wehmut machte sich in jedem Winkel ihres Gesichtes breit. Ihre Augen füllten sich mit trockenen Tränen. Wehmut, Traurigkeit, schmerzende Erinnerungen, Gleichgültigkeit, Einsamkeit... all das sah man ihr an. Es war wie auf ihr Gesicht geschrieben. Ich habe noch nie so einen traurigen Menschen gesehen, und ich habe schon viele gesehen.
An dem Abend, wo alles weg war, kein Tropfen Hoffnung ihr blieb, nahm sie das japanische Küchenmesser und schnitt sich die Pulsadern beider Arme auf. Das Blut war ganz warm und purpurrot. Es ist eine schöne Farbe dachte sie noch, als sie umfiel und alles um sie Schwarz wurde. Sie nahm sich das Leben, was sie nicht gelebt hat.

Das ist nun 7 Jahre her. Sie fährt jeden Tag zur Tagesklinik aufs Land. Dort bekommt sie genug Benzo, dass sie soviel Bewusstsein hat, den Weg nach Hause zurück zu finden und soviel Unbewusstsein, dass sie es nie wieder tun wird. Alles ist so schwer für sie, sie schafft nur diesen einen Weg seit 7 Jahren, sonst keinen. Und die Ärzte nennen es Fortschritt.
Sie hat sich an dem Abend nicht die Pulsadern aufgeschnitten, sondern ihr Ich verloren. Als sie an einem fremden Ort umherlief, verlor sie einfach das Bewusstsein. Jemand hat sie am nächsten Morgen an einer Hausmauer entdeckt.
Sie weiß nicht, wer sie ist. Aber sie erinnert sich an alles aus ihrer Vergangenheit, als wäre es eben passiert. Seitdem träumt sie fast jede Nacht diesen Traum. Ihr Herz zerbricht, sie schneidet sich die Pulsadern auf. Ihr Herz zerbricht, sie schneidet sich die Pulsadern auf. Ihr Herz zerbricht .... Sie wacht morgens auf und wundert sich, dass sie noch am Leben ist. Sie schaut auf ihre Arme, da sind Narben, aber außer ihr sieht sie keiner. Da ist nichts. Sie geht zum Spiegel, weder erkennt sie sich noch nimmt sie sich anders wahr. Sie kann sich nicht einmal fühlen. Und lebt seit 7 Jahren den gleichen Traum, Tag für Tag. Tag für Tag. Als wäre alles eine Kopie einer Kopie und mit jeder Kopie wird es unschärfer, unklarer und am Ende steht sie da, wo sie am Anfang stand. Als ob sie sich nur im Kreis dreht. Immer und immer wieder. Diese Frau hat kein Gesicht, keinen Namen, keine Identität. Sie lebt nur in dem einen Traum.
In Deinem Kopf.

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