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Sonntag, 12. September 2010

Geschälte Orangen


Im Hause meines Vaters war es laut, sehr laut sogar. Wir 5 liefen herum, zankten uns, lachten und spielten selbst erfundene Spiele. Wir drehten den Küchenstuhl um, einer saß drauf und hielt sich an den 4 Beinen fest. Dann wurde der Stuhl gewackelt und bewegt. Es gab noch ein Spiel, es hieß "Portakali soydum, basucuma oydum, ben bir yalan uydurdum, duma duma dum". Was soviel heißt wie Inne minne miste, es rappelt in der Kiste nur daß bei uns eine Orange geschält wird. Wir hatten viele dieser bescheuerten Spiele. Nöni war immer das Pferd. Während Mami im Garten erntete und Baba bei Granus Glaskonen zerschlug, waren wir mit Spielen beschäftigt als ob es kein Morgen gäbe. Gut, die Älteren trugen mehr Verantwortung als die Kleinen, aber ich erinnere mich nur an das gemeinsame Spielen. Auch wenn das Haus voll mit Gästen war, und das war es jeden Tag, spielten wir Kinder in der Menge und es schien niemanden zu stören. Ab und zu gab es Zoff und Gezanke aber der wurde ebenso schnell wieder vergessen.

Meine Kindheit drehte sich oft nur um die eine Frage: Was spielen wir jetzt? Zwischen Schule, Hausaufgaben, Zu Hause helfen und im Garten mit ernten war ich die meiste Zeit nach der Schule nur am Spielen. Wir gründeten den Club der Vampire und ich war minibebic, die Naschhafte. In der 4. Klasse waren wir der Club: Die schwarze Hand. Wir fühlten uns als Detektive. Eilendorf kam uns riesig vor und jeden Tag gab es Neues zu entdecken. Wir holten unser täglich Süß am Kundendienst Automaten und bei Frau Oebels oder Dremegari: Schlümpfe, Violas, Lakritz Schnecken, Speckmäuse, Erdbeeren, saure Schlangen, Lakritzbrezeln, Esspapier, Schleimi Spinnen, Cola Kracher, innen saure Lollis, und was es sonst noch gab. Die dicke Verkäuferin von Leo Schuhmacher arbeitet heute noch da. Ab und zu, sehr selten, wenn ich da vorbeikomme hole ich mir diese Kirschlollis, die an grünem Plastik hängen, so als ob man sie vom Ast gepflückt hätte. Kennst Du sie? Manchmal bekam ich das auch von meinem Hausarzt Dr. Friedrich. Sie gingen schnell kaputt und taten sehr schnell im Zahn weh. Bei Dr. Friedrich klauten Serah und ich im Frühling die Maiglöckchen aus dem Vorgarten. Wir lieben den Duft von Maiglöckchen.

Im Hause meines Vaters gab es immer warmes Essen, zu jeder Tageszeit. Mami war und ist eine leidenschaftliche Köchin. Und kein Gericht war ihr je zu mühsam um es zu kochen.
Es waren meist sehr aufwendige Gerichte. Doch was wir am meisten liebten, waren die einfachen Sachen. Kartoffeln, Kastanien und Zwiebeln aus dem Ofen im Winter. Dazu heißes Brot mit Butter, Salz und Chili, und Petersilie vom eigenen Garten. Und jede Menge Grünzeug sowie Tomaten. Alles frisch in die Mitte. Alle sitzen auf dem Boden, die Decke auf den Knien und das Tabla (Holztisch) in der Mitte. Salz vor jedem. Egal ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter, Grünzeug gab es immer in Massen.
Und Bekmez aus unserem Dorf. Bekmez ist nichts anderes außer Traubenzuckersirup.
Den meine Eltern sehr mühselig und mit Herzblut in tagelangem Aufwand herstellen. Es besteht zu 100% aus Weintrauben, die gewaschen, zerdrückt und stundenlang in einem Riesenkessel mit Erde gekocht werden.
Mein Vater hat extra für meine Mutter einen gigantischen Tretmörser herstellen lassen. Aus einem Stein, der jahrzehntelang in unserem Garten vor dem Haus stand. Früher hieß es, daß darunter eine alte Schlange leben würde.

An einem regnerischen Tag in den Sommerferien saß ich mit meiner Großmutter Ümmihan auf dem Balkon. Die Bäume wogten sich im Winde. Sie raschelten und erzählten ihre Geschichten. Meine Oma deckte sich zu mit meiner Babydecke in rot-blau Karo. Ich saß neben ihr, hielt ihre dünnen knochigen Hände, die immer warm waren und wir lauschten dem Regen, dem Wind und den Bäumen. Meine Eltern riefen von drinnen "Kommt rein. Ihr werdet noch krank." Aber wir zwei Dickköpfe blieben sturr. Wenn meine Oma etwas genoss, dann machte sie Geräusche wie Ähmm Mmmh Hmm. Und sie sagte mir: Kavaklari dinle (Hör den Bäumen zu. Lerne von den Bäumen das Leben.) Das tat ich und lernte von den Bäumen das Leben. Lauschte dem Wind und dem Regen. Die Alten in unserem Dorf können anhand des Windes, des Regens und der Ernte sagen, wie hart der Winter wird, wie warm der Sommer wird und wie lange sie leben werden.
Leider kann ich es nicht. Ich richte mich nach den Tieren. Freßen meine Katzen viel, dann wird es bestimmt ein harter Winter.
Aber es ist 10 Jahre her, daß ich Katzen habe und ich mag lieber Hunde. Katzen sind egoistisch und undankbar und Egoismus ist kein guter Charakterzug, weder für Mensch noch für Tier.

Im Dorf gab es nur einen einzigen Tante Emma Laden. Da konnte man alles in Kilo kaufen, die Ware lag in Schütten. Was wir liebten war Leplebi, eine Art geröstete Kichererbsen und natürlich Pötibör und Lokum, dazu Cay. Pötibör sind quasi Leibniz Butterkekse. Man nehme zwei Leibniz Butterkekse und in die Mitte türkischen Honig, den einfachsten. Quetsche den Honig zwischen den Keksen und genieße es zu heißem Tee, am besten ohne Zucker dazu Milch, aber das ist eher russisch oder britisch als türkisch.

Patpat ist ein Traktor und mein 87 jähriger Onkel fuhr mich einmal damit zum Weizenfeld. Als ich ankam, war ich weiß vor Staub und hatte Bauchschmerzen vor lauter Lachen. Naja, mein Onkel fuhr sehr... temperamentvoll wäre untertrieben. Wir gingen fischen mit Baba, Onkel Rasim und Onkel Sükrü (der mit 47 an Krebs starb). Der Fluß floß (heißt das so?) damals noch und die Fische waren noch recht klein aber dafür umso intensiver im Geschmack.
Sie warfen die Netze und fischten kleine und große Fische. Wir haben dei Fische gereinigt und gegrillt. Dazu gab es frisches Volksbrot (150gr aus bestem Weizenmehl) und Salat aus dem eigenen Garten sowie Ayran mit Milch von den eigenen Kühen, Salat ohne Ende und Honig aus der eigenen Imkerei. Und Wasser vom Fluß.
Wir Kinder mußten nichts tun. Wir sprangen Seil, schaukelten und liefen herum und schrien vor Glückseeligkeit.

Im Hause meines Vaters roch es nach Geborgenheit, Schutz und Liebe.
Wir hielten zusammen, komme was wolle. Wir glaubten an das Gute.

1 Kommentar:

serah hat gesagt…

jaaa es war sehr schön